Newsletter, Offener Brief an Medien und Politik

„Wir sind nicht die AfD, nicht die CDU, nicht die fünfte Kolonne Putins! Wir sind genau so individuell, wie alle andere Bürgerinnen und Bürger unseres Landes!“

Sehr geehrte Damen und Herren,

die Medienberichte der letzten Wochen mit einer sehr einseitigen Darstellung der Deutschen aus Russland als eine besonders motivierte Wählergruppe der AfD sorgten in den Organisationen der Deutschen aus Russland und bei vielen einzelnen Bürgerinnen und Bürgern für Unverständnis, Fassungslosigkeit und Empörung. Ohne geprüfte und dadurch belastbare Daten zum Thema zu haben, wird in verschiedenen Fernsehsendungen wie z.B. „Monitor“ (ARD, 18.05.17), Dunja Hayali (ZDF, 09.08.17), euronews (17.08.17), Tagesthemen (ARD, 28.08.17) behauptet, dass die AFD dort, wo besonders viele Deutsche aus Russland leben, die mit Abstand besten Ergebnisse erzielte. Es wird dabei Bezug auf Bielefeld-Baumheide, Espelkamp, oder immer wieder Pforzheim-Heidach genommen und einzelne Wortmeldungen aus diesen Gebieten auf das gesamte Bundesgebiet übertragen, was dann heißt, dass die „Russlanddeutschen“ wegen der Politik von Angela Merkel nicht mehr die CDU, sondern die AfD wählen würden. Am weitesten ging der Journalist Hajo Schumacher in der ZDF-Sendung Dunja Hayali, wo er alle „Russlanddeutschen“ als AfD-Wähler bezeichnete.

Wir sehen diese, wie auch andere Berichterstattungen (u.a. FAZ – Artikel über Russlandkongress der AFD vom 13.08.17, t-online – Nachrichten vom 10.08.17 etc.) als nicht nur undifferenziert, sondern auch als absichtlich diffamierend an! Es ist einfach nur traurig, dass Journalisten und Journalistinnen, die von sich selbst behaupten, aufgeklärte Menschen zu sein, in der gegenwärtigen Zeit, die Angehörigen einer gesellschaftlichen Gruppe nach ethnischen Kategorien einer bestimmten politischen Partei zuzuordnen. Wir verfügen über Daten und Fakten aus Städten und Landkreisen, wie z. B. aus Essen, Bochum, Düsseldorf, Paderborn, Kreis Lippe, Höxter etc. mit einem ebenso hohen Anteil an Deutschen aus Russland, wie in den oben aufgeführten Gebieten. Dort konnte die AfD keine besonderen Erfolge verzeichnen. Das passt natürlich nicht zu den „zugespitzten“ Behauptungen mit denen man Quote und Auflage machen kann. Man käme vielleicht der Wahrheit näher, wenn man der Frage nachginge, warum die AfD in bestimmten Stadtteilen gewählt wird und in anderen dagegen nicht. Die Antwort ist aus unserer Sicht naheliegend: Zum einen punkten rechte Parteien und Gruppierungen da, wo die etablierten Parteien versagen. Auf der anderen Seite werden in diesen Bereichen Deutsche aus Russland selten von den Etablierten angesprochen und noch seltener in die Übernahme politischer Verantwortung eingebunden. Wenn die politisch interessierten Vertreter/innen unserer Bevölkerungsgruppe keine Chance bekommen, sich innerhalb der etablierten Parteien weiter zu entwickeln, wenn kein Vertrauen geschenkt wird, kann niemand dann vor Ort den Populisten entgegen treten.

In den Städten und Landkreisen, wo die politischen und gesellschaftlichen Organisationen sich für die   Deutsche aus Russland und deren Vereine öffneten, stellten sich sehr schnell positive Entwicklungen ein. Da wurden den radikalen Gruppierungen der Boden entzogen. Zum anderen, trägt die starke Konzentrationen von Spätaussiedler/innen in bestimmten Stadtteilen dazu bei, dass es der AfD gelingt für sich zu werben. Es sind die Zurückgelassenen, Menschen mit niedrigen Einkommen, Arbeitslose und arme Rentner/innen. Viele Spätaussiedler*innen, die es sich leisten konnten, haben inzwischen diese Siedlungen verlassen. Die räumlichen Konzentrationen waren von den Deutschen aus Russland selbst nie gewollt. Sie sind infolge der fehlerhaften Integrationspolitik in den letzten zwei Jahrzehnten entstanden. In diesen Gebieten findet die AfD bekanntlich mehr Zuspruch. Das ist aber kein russlanddeutsches Phänomen.

Es ist schon erstaunlich, dass einige Journalisten und Journalistinnen bei ihren Recherchen die allgemein zugänglichen Daten zum Thema nicht genutzt haben. So wurde bereits 2016 in einer Studie des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Migration und Integration (2016) festgestellt, dass die Parteipräferenzen der Spätaussiedler sich weniger von denen der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund unterscheiden als in der Untersuchung ca. 20 Jahre früher. Noch lange vor der Migrationskrise von 2015 wurde mehrmals festgestellt, dass die traditionelle Bindung an die CDU seitens der Spätaussiedler/innen aus Nachfolgestaaten der ehem. UdSSR deutlich zurückgeht. Dies hat in erster Linie nicht mit der Politik von Angela Merkel zu tun, sondern viel mehr damit, dass die Menschen sich je nach ihren Erfahrungen und neu gewonnenen Ansichten orientieren. Sie gehen arbeiten, sie machen Ausbildungen und Qualifizierungen, sie engagieren sich in Sport- und Kulturvereinen, in Kirchengemeinden, bei Sozialverbänden und Bürgerinitiativen, sie werden Mitglieder in Gewerkschaften. Sie nehmen damit die Realität so war, wie auch andere Bürgerinnen und Bürger. Und dementsprechend ändern sich deren politische Überzeugungen und die Bereitschaft bestimmte Kandidaten für politische Ämter zu unterstützen. Wir sehen darin ein Zeichen der gut gelungenen Integration!

Es fällt außerdem auf, dass in allen Sendungen und Reportagen die jüngere Generation der Deutschen aus Russland kaum erwähnt wird. Ob die jungen Menschen aus russlanddeutschen Familien, die in Deutschland aufgewachsen sind, auch so denken, wie es ARD, ZDF oder euronews meinen? Nein, ganz und gar nicht! Es gibt mittlerweile junge Politiker, wie der Bundestagskandidat der SPD Dmitri Geigel aus Berlin-Marzahn. Warum lädt Frau Hayali nicht ihn in ihre Sendung ein? Vielleicht, weil progressive, gut integrierte Aussiedler nicht in ihr Konzept passen? Ist es nicht zielführend genauer zu schauen, wie es jetzt den jungen Menschen geht, die noch vor wenigen Jahren von denselben Medien als perspektivlos dargestellt wurden? Ist es nicht interessant zu erfahren, ob sie eine oder verschiedene Parteien wählen und ob es dabei Unterschiede zu ihren Gleichaltrigen aus anderen Bevölkerungsgruppen gibt?

Nicht zum ersten Mal müssen die Deutsche aus Russland unbegründete Vorwürfe, pauschale Anschuldigungen, falsche Behauptungen jeglicher Art anhören. Zuerst war das eine von Oskar Lafontaine initiierte Kampagne von 1996. Die Spätaussiedler/innen wurden damals als Plünderer der sozialen Kassen dargestellt. Zum Ende der 90er Jahren kam dann das Thema „Kriminalität unter den russlanddeutschen Jugendlichen“ auf. Damit nicht genug: in den darauffolgenden Jahren wurde der breiten Öffentlichkeit eingeredet, die „Russlanddeutsche“ seien nicht wirklich deutsch, sie bleiben unter sich und bilden Parallelgesellschaften, sie seien öfter als andere Zuwanderergruppen arbeitslos (2007). In Folge der Verschlechterung der deutsch-russischen Beziehungen in den letzten Jahren wurden bei den Deutschen aus Russland plötzlich besondere Sympathien für Wladimir Putin und seine Politik entdeckt. Der Begriff „fünfte Kolonne“ ist mehrmals nicht nur von Journalisten, sondern auch von hochrangigen Politikern benutzt worden.

Nichts davon hat sich bewahrheitet. Die Spätaussiedler/innen zahlen in die Kassen der sozialen Sicherung durch ihre Beiträge deutlich mehr ein, als sie aus diesen Kassen an Leistungen erhalten. Die erhöhte Jugendkriminalität unter den Deutschen aus Russland hat es in Wirklichkeit nie gegeben und jetzt ist davon gar keine Rede mehr. Über 23 % der Schüler/innen aus russlanddeutschen Familien erreichen das Vollabitur. Die Arbeitslosigkeit unter den Deutschen aus Russland ist niedriger, als bei den anderen Migrantengruppen. Die sinkt kontinuierlich weiter und nähert sich dem Niveau der angestammten deutschen Bevölkerung. Die meisten Deutschen aus Russland stehen zur Demokratie und Rechtsordnung der Bundesrepublik. Sie fragen sich, was von ihnen noch erwartet wird? Warum wird deren Lebensleistung nicht anerkannt und nicht respektiert? Oder werden sie eben deswegen angegriffen, weil sie so erfolgreich sind? Auf deren Versuche zu den negativen Berichterstattungen die Gegendarstellungen zu schreiben, einen fairen Diskurs zu ermöglichen, wird meistens gar nicht reagiert. Die Journalisten, aber auch viele Politiker haben schnell gelernt, dass man diese Menschen pauschal als „die Russlanddeutschen – die Deutschrussen – die Russen“ angreifen kann, ohne von irgendjemanden für das gesagte oder geschriebene Wort zur Verantwortung gezogen zu werden. Denn, sie sind doch schwach organisiert, wehren sich nicht und haben keine Lobby. Niemand macht sich für sie stark.

Man möchte solchen Politikern und Journalisten sagen: „Überprüfen Sie Ihre Werte wenn Sie es für zulässig halten, eine ganze Bevölkerungsgruppe komplett als Anhänger einer Partei oder eines ausländischen Staates darzustellen!“ In jeder russlanddeutschen Familie sind die Erinnerungen an die Zeiten noch wach als die gesamte russlanddeutsche Bevölkerung in der Sowjetunion als fünfte Kolonne Nazi-Deutschlands bezeichnet wurde. Es folgten der Entzug von allen bürgerlichen Rechten, Deportationen nach Sibirien, Zentralasien und Fernosten, jahrzehntelange Repressalien, Zwangsarbeit und Tod. Jede/r dritte/r hat infolgedessen ihr/sein Leben verloren. Man braucht nicht so viel Vorstellungskraft zu haben, um verstehen zu können, welche Gefühle und welche Verunsicherungen die Anschuldigungen wecken, schon wieder eine „fünfte Kolonne“ von jemandem zu sein, mit dem man nichts zu tun hat. Die Angst sitzt noch tief in den Herzen – bis heute.

Und nun werden ausgerechnet diese Menschen als besonders ablehnend, beinahe feindlich, gegenüber den Kriegsflüchtlingen der heutigen Zeit dargestellt. Es wird einfach mal außer Acht gelassen, das mittlerweile zehntausende wenn nicht gar hunderttausende Deutsche aus Russland über das ganze Bundesgebiet verteilt mit den Flüchtlingen in direkter Nachbarschaft in den Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus quasi Tür an Tür wohnen und gut miteinander auskommen. Es gibt kaum Berichte über Konflikte oder Spannungen vor Ort. Es wird einfach nicht gesehen und in den medialen Berichten nicht mal mit einem Wort erwähnt, wie viele Deutsche aus Russland den vom Krieg und Verfolgung geflüchteten Menschen helfen. Die kritische, zum Teil ablehnende Haltung einiger Deutscher aus Russland zu einzelnen politischen Entscheidungen der jetzigen Regierung, wird durch die Medien so vermittelt, als ob sie alle nun deswegen extrem konservative und radikale Parteien wählen. Es ist in einer pluralistischen Gesellschaft nicht zulässig von Bürgerinnen und Bürger zu erwarten, dass sie sich mit politischen Beschlüssen der machthabenden Parteien stillschweigend identifizieren. Es gehört zur Demokratie, wenn die Menschen nach Antworten auf ihre Fragen nach besseren Ideen zur Lösung der bestehenden Problemlagen suchen. Das findet gesamtgesellschaftlich statt und da ist nichts Schlechtes dran.

Die Russlanddeutschen sind nicht die AfD, nicht die CDU, nicht irgendeine andere Partei! Sie sind genau so individuell wie alle anderen Wählerinnen und Wähler dieses Landes. Viele reflektierte Bürgerinnen und Bürger verstehen das. Gerade diejenigen, die Deutsche aus Russland als Nachbarn, als Arbeitskolleg/innen oder als Freunde kennen, lassen sich durch pauschale diffamierende Angriffe nicht täuschen. Dafür sind wir ihnen dankbar. Es gibt jedoch auch nicht wenige, die ohne die Wirklichkeit zu kennen, sich blind auf die meinungsbildenden Medien verlassen und in jedem Deutschen aus Russland einen AfD-Wähler, einen Flüchtlingsgegner oder einen Putin-Anhänger sehen (werden). Das birgt Probleme, die nicht vorhersehbar sind. Wem nutzt das?

In den hier bereits erwähnten Berichterstattungen und Sendungen deuten wir als erste Anzeichen einer medialen Hetzkampagne gegenüber den Russlanddeutschen. Wir fordern die Medien dazu auf, von solchen fatalen Aktionen abzusehen.

Als Vertreterinnen und Vertreter der zahlreichen Selbstorganisationen der Deutschen aus Russland in vielen verschiedenen Kommunen und Landkreisen unseres Landes verweisen wir darauf, dass ein Waldemar Birkle vielleicht eine relativ kleine Wählergruppe aus Pforzheim-Heidach repräsentiert. Er ist aber kein Repräsentant der Deutschen aus Russland.

Wenn Sie wirklich interessiert sind, zu erfahren, was die in Deutschland lebenden Spätaussiedler/innen aus den Ländern der ehem. UdSSR in ihrer ganzen Vielfältigkeit bewegt, wenn Sie ein Gespräch suchen, dann kommen Sie mit Neugier und Unvoreingenommenheit. Für einen konstruktiven und ehrlichen Dialog sind die meisten Deutschen aus Russland immer offen. Manipulationen der öffentlichen Meinung, Pauschalisierungen und Diskriminierungen einer ganzen Bevölkerungsgruppe aufgrund der Herkunft oder Wahlkämpfe mit unfairen Mitteln auf Kosten einer Minderheit sind hingegen absolut inakzeptabel! Dies ist ein Verstoß gegen die demokratischen Grundprinzipien unserer Gesellschaft mit weitgehenden Folgen für uns alle – Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland.

Hochachtungsvoll:
Vereinigung zur Integration der Russlanddeutschen Aussiedler (VIRA) e. V.