Johann Engbrecht hat einmal gesagt: „Der soziale Frieden in der Gesellschaft ist nur dann stabil, wenn alle daran arbeiten. Eine große Rolle dabei spielen die Ehrenamtlichen“. Und das war nicht einfach nur dahingesagt, das hat er gelebt.
Geboren wurde Johann Engbrecht am 1.12.1934 in Kleefeld, einem von seinen Vorfahren mit gegründeten Dorf im Altai im Kreis Halbstadt. Es war die Zeit des stalinistischen Terrors. Sein Vater Heinrich, ein Tischler und Bauer, wurde 1941 in die „Trudarmee“ gezwungen. Ein Jahr später seine Mutter Maria, geb. Eck. Seine jüngere Schwester Helene und er kamen zur Großmutter Helene Rempel und nach deren Tod zu „fremden Leuten“. Die Familie Klassen nahm sie auf. Die Mutter konnte zweimal aus dem Arbeitslager fliehen, wurde aber immer wieder inhaftiert. Der Versuch, im Herbst 1944 die Kinder mit einem Ochsenkarren zum Lager der Mutter zubringen – versteckt unter Stroh und Lumpen – scheiterte. Johann und Helene bekamen die Kälte jener Zeit – im wahrsten und übertragenen Sinne – zu spüren.
Johann war ein kluges Kind. Bis zu seinem 19. Lebensjahr hatte er nur 7 Jahren eine Schule besuchen können. Stattdessen hatte er mit 9 Jahren schon in der Sowchose arbeiten müssen. Von seinem Berufswunsch war er weit entfernt. Beharrlich und nicht ohne Wagemut verfolgte er sein Ziel, Physiker zu werden. Holte Schulbildung nach, wurde immer wieder wegen seiner Nationalität abgewiesen und diskriminiert. Was ihn nicht hinderte, nach anderen Wegen zu suchen. Am Technikum in Prokopjewsk wurde er von 1953 – 1957 im Fachgebiet des Bergbaus ausgebildet und ging als Meister nach Karaganda in den Kohlebergbau, wo er endlich seine Mutter wiederfand.
1959 konnte er sich an der Universität Karaganda einschreiben und 1964 seinen Abschluss als Physiker machen. An der neugegründeten medizinischen Universität inZelinograd unterrichtete er als Dozent medizinische und biologische Physik. Ein Doktortitel wurde ihm lange verwehrt, obwohl er zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten veröffentlichte. Erst 1991 wurde er promoviert. Als späte Genugtuung konnte er beim 50jährigen Jubiläum der Universität Astana (vorher Akmola) 2014 vom Rektor eine Auszeichnung entgegennehmen.Eigentlich hätten wir uns schon in Zelinograd treffen können, wäre nicht Johann wenige Monate nach Deutschland ausgereist, bevor ich 1992 zum ersten Mal als Pastor nach Zelinograd kam, das damals Akmola hieß.
Seine erste Frau Bertha und seinen Vater hatte er 1988 noch drüben begraben müssen. Die beiden Töchter Helene und Elvira mit ihren Familien und seine Mutter Maria aber reisten mit aus und kamen 1992 nach Duisburg.
Sofort schloss er sich der Landsmannschaft an und das nicht nur als einfaches „passives“ Mitglied. Er wurde bald tätig. In der Sozialberatung, im Vorstand des Orts- und Kreisverbandes und schließlich von 1995 bis 2001 als stellvertretender Vorsitzender und bis 2011 als Vorsitzender der Landesgruppe NRW. Seit 2012 war erder erste Ehrenvorsitzende.
In zahlreichen Ausschüssen hat er mitgearbeitet – auf Landes- und Bundesebene. Von 1995-2012 war er Mitglied des Beirates beim Landtag für die Fragen der Vertriebenen, Flüchtlinge und Spätaussiedler. Er lernte das Gerhart-Hauptmann-Haus in Düsseldorf kennen und schätzen. Hatte da ein Büro und lud zu vielen Veranstaltungen ein. Um die Jugend besser einzubinden, organisierte er mit anderen Musik- und Sportfestivals.
Unermüdlich war er unterwegs. Besuchte die Ortsgruppen, hielt Vorträge über aktuelle Fragen wie z.B. über Rentenfragen und Fragen der Familienzusammenführung. Vor allem aber konnte er zuhören, wo den Menschen der Schuh drückte. Er kannte sich aus und wusste Rat. Ein echter Kümmerer, auf denVerlass war und dessen Wort Gewicht hatte. Den Verein VIRA hat er mitbegründet und sich nach Kräften eingebracht, von 2005-2011 als stellvertretender Vorsitzender. Am 23.11.2016 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen.
Einmal – es muss um das Jahr 2000 herum gewesen sein, waren wir beide unabhängig voneinander von der unvergessenen Magdalena Merdian nach Espelkamp zum Treffen des Ortsvereins zum Vortrag gebeten worden. Johann war mit dem Zug angereist, hatte die Strapazen einer umständlichen Anreise auf sich genommen. Ich war mit dem Auto gekommen, den Weg nach Espelkamp kannte ich nur zur gut, hatte ich doch 1982 -85 dort als Vikar gearbeitet und mit meiner Familiegelebt.
Zuerst war Johann dran. Erst auf Deutsch informierte er über die neuesten Entwicklungen, stellte sich Fragen und wechselte dann unvermittelt ins Russische, weil er das Gefühl hatte, dass die Inhalte so von den Menschen besser verstanden wurde. In der Frage der deutschen Sprache dachte er keineswegs ideologisch, sondern pragmatisch. Es ging ihm um die Menschen, und denen wollte zur Seite stehen. Seinen Landsleuten. Er überzog die ihm zugebilligte Zeit und es blieb für meinen Vortrag nicht mehr viel Zeit. Dennoch fühlte es sich völlig richtig an.
Für den Rückweg lud ich ihn ein, mit im Auto bis Hamm zu fahren und von dort mit dem Zug nach Hause. Diese Autofahrt war ein echtes Himmelsgeschenk. Wir sprachen über alles, über Gott und die Welt, über Zelinograd, die alte und die neue Heimat, über die Wiedergeburt und die Landsmannschaft, auch über persönliches. Die Zeit verging wie im Flug und als ich ihn am Bahnhof absetzte, waren wir längst beim Du. Eine Freundschaft war begründet.
In den folgenden Jahren haben wir vieles gemeinsam besprochen und uns gegenseitig eingeladen. Zum Jahresempfang nach Oerlinghausen, zu Seminaren in Altenkirchen, zu Studienfahrten in den Osten Deutschland. Meine Ausstellung „Das Russlands Deutsche Haus“ hat er sowohl zum 30. Bundestreffen nach Rheinberg als auch in seine Ortgruppe nach Duisburg eingeladen.
Es wuchs ein großes Vertrauen zueinander. Und eines Tages bat er mich, ihn zu taufen – während eines Jahresempfangs in Oerlinghausen in der schönen Kapelle des St. Hedwighauses. Das kam überraschend, nicht nur für mich, sondern auch für seine Familie und alle, die am Jahresempfang teilnahmen. Zusammen mit dem Beauftragten der Bischofskonferenz, Monsignore Dr. Alexander Hoffmann, feierten wir am 15.1.2012 einen ökumenischen Gottesdienst, in dem Dr. Hoffmann die Taufansprache hielt und wir gemeinsam die Taufe vollzogen. Was für ein Zeichen! Für Johann war beides – die Taufe und das ökumenische Miteinander – Herzenssache. Johann sagte später darüber: „Hier in der St. Hedwigs-Kapelle begannauch mein neues Leben …“ Sein Taufspruch brachte es zum Ausdruck, was ihn bewegte: „Lobe den Herrn meine Seele und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ (Psalm 103, 2)
Mit Johann verlieren wir einen väterlichen Menschenfreund, dessen vorbildliches und uneigennütziges Engagement uns Vorbild bleibt. Vor allem aber wird uns dieser warmherzige und manchmal auch kämpferische Mensch fehlen.
Ob wir immer einer Meinung waren? Natürlich nicht. Das war für unsere Freundschaft nicht wichtig, weil Vertrauen da war, die auch die Unterschiedlichkeit aushielt und zu einem förderlichen „voneinander Lernen“ werden ließ.Eigentlich wollte ich ihm diesmal zuvorkommen mit dem Weihnachtsgruß. Bisher kam zu jedem Feiertag zuerst von ihm eine schön gestaltete Karte oder Mail und dasSignal: du bist nicht vergessen – ich denke an dich. Wie gut das tat. Vom väterlichen Freund ein paar freundliche Worte, die ich gerne erwiderte.
Zum letzten Weihnachtsfest kam keine Mail mehr. Wenige Tage vor Weihnachten istJohann Engbrecht im Alter von 86 Jahren gestorben und wurde am 14.1.2021 i Duisburg begraben. An seinem Grab hätten – wären es nicht pandemische Zeiten – viele gestanden und sich gerne vor ihm ein letztes Mal verbeugt mit Tränen in den Augen und einem „Danke für alles“ auf den Lippen und im Herzen.
Edgar L. Born